Freitag, 8. Februar 2008




BGH Urteil vom 17.03.1992 (VI ZR 62/91)

BGHZ 117, 337

Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung; StVG § 7 Abs. 1, Abs. 2

Leitsätze:




»Wird ein Kraftfahrer, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat, in einen Unfall verwickelt, so kann er sich, wenn er auf Ersatz des Unfallschadens in Anspruch genommen wird, nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls i.S. von § 7 Abs. 2 StVG berufen, es sei denn, er weist nach, daß es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre.«

Tatbestand:

Der Erstbekl. geriet, als er am 19.7.1986 gegen 21.20 Uhr mit hoher Geschwindigkeit mit seinem Porsche 911 auf dem linken Fahrstreifen einer dreispurigen Bundesautobahn fuhr, mit dem bei der Zweitbekl. haftpflichtversicherten Wagen, den er hinter einem von der mittleren auf seine Fahrspur wechselnden BMW abgebremst hatte, ins Schleudern. Das Fahrzeug überquerte die mittlere Fahrspur und stieß auf der rechten Fahrspur gegen ein Wohnwagengespann. Dadurch riß der Anhänger ab und prallte auf einen auf dem Standstreifen abgestellten Opel-Kadett. Hierdurch wurde der Kl., der unter dem Opel-Kadett lag, um die Lichtmaschine des Wagens zu reparieren, schwer verletzt. Er hat von den Bekl. seinen mit 78.536,14 DM bezifferten und unfallbedingten materiellen Schaden ersetzt verlangt und ein angemessenes Schmerzensgeld geltend gemacht.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl. ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt der Kl. seine Klageansprüche nur noch hinsichtlich der materiellen Schäden weiter.

Entscheidungsgründe:

a. »Der Unfall ist für den Erstbekl. kein unabwendbares Ereignis i.S. von § 7 Abs. 2 StVG gewesen. Mit seiner gegenteiligen Wertung hat das BerGer. dem der Regelung zugrundeliegenden Haftungsmaßstab und der Bedeutung der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung vom 21.11.1978 (BGBl. I S. 1824) für die Auslegung dieser Vorschrift nicht Rechnung getragen.

Der Begriff »unabwendbares Ereignis« i.S. von § 7 Abs. 2 StVG meint, wofür allerdings bei isolierter Betrachtung der Wortsinn sprechen könnte, zwar nicht absolute Unvermeidbarkeit des Unfalls, sondern, wie sich aus § 7 Abs. 2 StVG ergibt, ein schadensstiftendes Ereignis, das auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Hierzu gehört jedoch ein sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S. von § 276 BGB hinaus (vgl. Senat, VersR 1987,158,159 m.w.Nachw.). Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalls geltend machen will, muß sich wie ein »Idealfahrer« verhalten haben (vgl. Senat, DRsp II (294) 219 a-c = NJW 1986,183; DRsp II (294) 229 a-b = NJW 1987,2375; vgl. ferner BGH, NJW 1985,1950,1951 m. w. Nachw.). ...

Der Begriff des unabwendbaren Ereignisses i.S. von § 7 Abs. 2 StVG verlangt eine sich am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kraftfahrzeugbetrieb ausrichtende Wertung (vgl. Senat, BGHZ 105,65,69 = DRsp II (294) 235 a-b).

Diese Wertung hat unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen (vgl. Senat, VersR 1964, 777, 778). Dabei darf sich die Prüfung aber nicht auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein »Idealfahrer« reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein »Idealfahrer« überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre; der sich aus einer abwendbaren Gefahrenlage entwickelnde Unfall wird nicht dadurch unabwendbar, daß sich der Fahrer in der Gefahr nunmehr (zu spät) »ideal« verhält (vgl. Krumme-Steffen, StVG, 1977, § 7 Rdn. 25). Damit verlangt § 7 Abs. 2 StVG, daß der «Idealfahrer« in seiner Fahrweise auch die Erkenntnisse berücksichtigt, die nach allgemeiner Erfahrung geeignet sind, Gefahrensituationen nach Möglichkeit zu vermeiden.

Solche Erkenntnisse haben in der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung Ausdruck gefunden. Allerdings beschränkt sich diese Verordnung auf die Empfehlung, u. a. auf Autobahnen auch bei günstigen Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen nicht schneller als 130 km/h zu fahren. Sie ist damit anders als § 3 StVO keine Vorschrift für das im Straßenverkehr erforderliche Fahrverhalten, an deren Verletzung sich unmittelbare Sanktionen knüpfen. So hat die Rechtspr. - soweit ersichtlich - bisher einhellig entschieden, daß die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit allein einen Schuldvorwurf noch nicht begründet (vgl. OLG Hamm, NZV 1992,30; OLG Köln, VersR 1991,1188,1189; KG, VerkMitt 1985,63,64; OLG Karlsruhe, DAR 1988,163; vgl. ferner OLG Saarbrücken, VerkMitt 1987,54,55). Das Fehlen unmittelbarer Sanktionen bedeutet indes nicht absolute rechtliche Irrelevanz auch für das Haftungsrecht. Vielmehr kommt in der Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung Erfahrungswissen zum Ausdruck, das bei der Auslegung des Begriffs des unabwendbaren Ereignisses mit zu berücksichtigen ist (vgl. BGHZ 103,338,341 f. zum Empfehlungscharakter von DIN-Normen). Die Verordnung beruht auf der Ermächtigung des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG; schon daraus ergibt sich, daß sie der Sicherheit des Verkehrs zu dienen bestimmt ist. Dies findet auch in dem Schlußbericht einer Projektgruppe aus Wissenschaftlern Ausdruck, der dem Verordnungsgeber vorlag (VerkBl. 1978,478). Dieser gründet vor allem auf der Erkenntnis, daß die Einhaltung solcher ermäßigten Geschwindigkeit auf Autobahnen auch bei günstigen Orts- und Verkehrsbedingungen nachhaltig zur Vermeidung von Unfällen, vor allem von solchen mit schweren Folgen, beiträgt ... . Die Empfehlung des Verordnungsgebers stellt sich damit trotz ihrer fehlenden rechtlichen Verpflichtungswirkung als »Vernunftaufruf« und Appell an die Verantwortung des Verkehrsteilnehmers dar (vgl. Jagusch, NJW 1974,881,882 f.; Begründung des Bundesrates zur Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung vom 13.3.1974, VerkBl. 1974,225), den ein Kraftfahrer, der den erhöhten Anforderungen an einen »Idealfahrer« genügen will, nicht unbeachtet lassen darf. Die Empfehlung strebt zur Herabsetzung der Betriebsgefahren des Kraftfahrzeugs auf Autobahnen die Bildung eines allgemeinen Verkehrsbewußtseins an, dem der Kraftfahrer auch ohne Bestehen einer Höchstgeschwindigkeitsregelung Rechnung tragen soll. Nur wer die Richtgeschwindigkeit einhält, verhält sich als »Idealfahrer«, wie ihn § 7 Abs. 2 StVG meint. Im Rahmen der Halterhaftung des § 7 StVG kann sich nur ein solcher Idealfahrer, wenn er durch das Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers auf der Autobahn in einen Unfall verwickelt wird, auf den Vertrauensgrundsatz berufen; wer schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, daß sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt, insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt.

Dem steht nicht entgegen, daß die heutigen Kraftfahrzeuge aufgrund des technischen Entwicklungsstandes auch bei Geschwindigkeiten von mehr als 130 km/h einen gefahrlosen Betrieb ermöglichen. Auch kommt es nicht darauf an, daß der Ausbauzustand vieler Autobahnstrecken eine solche Geschwindigkeit gefahrlos zuläßt. Entscheidend ist vielmehr, daß diese technischen Möglichkeiten ihre Begrenzung in den Eigenschaften und Fähigkeiten der Menschen finden, die sich ihrer bedienen. Nicht nur verlangen höhere Geschwindigkeiten ein überproportional zunehmendes Maß an Aufmerksamkeit, Voraussicht und Reaktionsvermögen des Fahrers, um auf die sich ihm stellenden Verkehrssituationen angepaßt zu reagieren, sondern der Kraftfahrer hat auch zu bedenken, daß er sich auf der Autobahn gemeinsam mit anderen Verkehrsteilnehmern bewegt, deren Fähigkeiten häufig nicht ausreichen, die durch einen langen Brems- und Anhalteweg gekennzeichneten besonderen Gefahren zu erkennen und zu beherrschen, die von einem mit hoher Geschwindigkeit fahrenden anderen Fahrzeug ausgehen (vgl. OLG Hamm, DAR 1991,455,456; vgl. ferner Greger, NZV 1990,269,270). Die Erfahrung zeigt, daß immer wieder Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich schnell näherenden Fahrzeugs, zumal wenn es von hinten herankommt, nicht richtig einzuschätzen und sich hierauf bei einem Wechsel der Fahrstreifen nicht einzustellen vermögen. Dem muß der »Idealfahrer« in seiner Fahrgeschwindigkeit auch dann Rechnung tragen, wenn er selbst in der Lage ist, sein eigenes Fahrzeug bei der von ihm gefahrenen hohen Geschwindigkeit voll zu beherrschen. In einem Unfall, in den er auf diese Weise auf der Autobahn verwickelt wird, aktualisiert sich in aller Regel diejenige Betriebsgefahr, an die die Gefährdungshaftung des § 7 StVG anknüpft, selbst unter günstigen Verkehrsbedingungen und bei Beachtung aller übrigen Verkehrsvorschriften jedenfalls dann, wenn er die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschreitet, es sei denn, er weist nach, daß es auch bei Einhaltung dieser Geschwindigkeit zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre. ...

Die Begründung, mit der das BerGer. im Rahmen der Hilfserwägung zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Erstbekl. bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge außer Ansatz bleiben müsse, hält einer Überprüfung gleichfalls nicht stand.

Das BerGer. hat ... das grob verkehrswidrige und schuldhafte Verhalten des unbekannt gebliebenen BMW-Fahrers zu Lasten des Kl. in die Abwägung der Verursachungsbeiträge einbezogen. Das ist nicht richtig. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß die Einstandspflicht des Erstbekl. nach Maßgabe einer Einzelabwägung seines Verursachungsbeitrags mit dem des Kl. zu bestimmen ist. Eine Gesamtschau aller Verursachungsbeiträge, wie sie das BerGer. vorgenommen hat, kommt in einem solchen Fall nicht in Betracht (vgl. BGHZ 30, 203, 205, 212; BGHZ 61, 351, 354; Steffen, DAR 1990, 41, 42).«

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